Internationales Bulletin / Nr. 200 / Juli 2019 Es ist kaum ein Jahr vergangen, seitdem das „Präsidialsystem" in Kraft getreten ist, das dem Regime von Erdogan's Palast eine verfassungsrechtlichen Rahmen geschaffen hat und doch nehmen die Diskussionen um die Verfassung von Seiten der Herrschenden kein Ende. Während die faschistische Koalition der AKP - MHP die Diskussionen auf eine sogenannte „Rehabilitation" beschränken will, versucht die von der CHP angeführte bürgerliche Opposition, eine verfassungsrechtliche „Reorganisation" zur Stärkung des parlamentarischen Systems voranzutreiben. Warum diskutieren die Herrschaften wieder über die Verfassung? Ohne Zweifel hat die ungelöste strukturelle Krise des türkischen Regimes, die sich mit der aktuellen Krise zu einer multidimensionalen Krise entwickelt hat, die Debatte ausgelöst. Kann denn dieses Staatsparadigma, das ein Präsidialsystem etabliert hat, mit einer Verfassungsdiskussion eine strukturelle Krise lösen, ohne die Ein-Mann-Staatsstruktur abzuschaffen? Wir sprechen nicht von einer sozialistischen oder einer revolutionär-demokratischen Republik. Selbst im bürgerlichen Sinne ist es nicht möglich ein demokratisches Staatssystem basierend auf dem aktuellen faschistischen Status-Quo dieses Staatsparadigmas zu schaffen. Könnte die jetzige Staatsstruktur zum Beispiel einen Verfassungsartikel etablieren, welcher die Existenz der kurdischen Nation beinhaltet? Oder könnte sie ihren sunnitisch-hanafitischen Konfessionalismus beiseite legen und die Gleichstellung der Aleviten garantieren? Oder die Rechte der anderen unterdrückten Nationen gewährleisten? Könnte sie eine kostenfreie, muttersprachliche Bildung beinhalten oder demokratische, autonome Universitäten errichten? Könnte sie die Hindernisse für die Organisierung der Arbeitskraft aufheben? Könnte sie strukturelle Maßnahmen für die Gleichstellung und Freiheit der Frauen vornehmen? Könnte sie in ein Produktionsmodell übergehen, das nicht auf die Zerstörung der Natur und Lebensräume basiert? Könnte sie, zusammengefasst, die Forderung der Unterdrückten nach politischer Freiheit erfüllen ohne das jetzige Staatsparadigma umzuwerfen, sondern nur durch eine verfassungsrechtliche Änderung? Die Liste der Fragen können wir fortsetzen, aber bereits die oben gestellten Fragen reichen aus, um zu verstehen, dass strukturelle Fragen nicht mit einem Verfassungskompromiss gelöst werden können. Jede Verfassungsdiskussion, welche den „Gründungs-Code" des türkischen Staatsparadigmas beinhaltet (ein Staat ausschließlich basierend auf einer Nation, einer Konfession, etc.) kann selbst im bürgerlichen Sinne keinen Gesellschaftsvertrag schaffen. Die vielfältigen Kämpfe, Aufstände und Massaker in der fast 100-jährigen Geschichte der türkischen Republik beweisen diese Tatsache. Die heutige Regime-Krise kann aufgrund dieser Tatsache weder mit einem kemalistischen Paradigma, noch mit dem politisch-islamischen Palast-Regime gelöst werden. Der Vorschlag eines „gestärkten parlamentarischen" Systems wird keine wesentlichen Veränderungen für die Unterdrückten darstellen. In der heutigen Zeit der imperialistischen Globalisierung, die durch eine existenzielle Krise des Kapitalismus gekennzeichnet ist, sind der Aufstieg der politischen Reaktion und die Krise der bürgerlichen Demokratie und der parlamentarischen Ordnung, weit verbreitete Phänomene. In Anbetracht dieser Rahmenbedingungen müssen die Kräfte, die eine Politik für die Unterdrückten vertreten, anstelle der Rehabilitation oder Reorganisation der herrschenden Ordnung, eine allumfassende neue Ordnung mit den Mechanismen für die Gewährleistung eines neuen Gesellschaftsvertrags anstreben. Die Unterdrückten brauchen eine eigene programmatische, organisatorische und politische Front, welche von uns „der 3. Weg" genannt wird. Jede Diskussion, die den 3. Weg ohne unabhängige Aktion, ohne die Perspektive einer allumfassenden Systemänderung beschreiten will, kann nicht über die Reproduktion der vorhandenen Ordnung hinausgehen. Innerhalb der werktätig-linken Bewegung in der Türkei gibt es hinsichtlich dieser Herangehensweise einige Probleme. Natürlich lehnen wir den linken Apolitismus ab, der diese aus der Krise resultierenden Diskussionen grob mit der Revolution beantworten will. Die revolutionär-demokratischen Kräfte müssen die entfachten Diskussionen auf dem Boden der Reform-Revolutions-Dialektik begreifen und die Unterdrückten als eine eigene, unabhängige Kraft gegenüber dieser Ordnung positionieren. Nur wenn die Verfassung, oder richtiger gesagt der neue Gesellschaftsvertrag, mit einer politischen Bewegung für die eigenen Forderungen der Unterdrückten verbunden wird, kann daraus eine wirkliche revolutionär-demokratischer Aktion entstehen. Erinnern wir uns daran, dass das Projekt „des Neuen Lebens", mit der die HDP und HDK ihren Lauf genommen hat, genau den programmatischen Boden für diese Linie geschaffen hat. Die HDP hat mit ihren Wahlerfolgen beginnend mit 2015 nicht nur die Wahlhürden des Faschismus über Bord geworfen, sie hat die Diktatur mit einem revolutionär-demokratischen Programm konfrontiert, nach der die Macht lokal verteilt, die Selbstverwaltung der Nationen und Glaubensrichtungen gewährleistet wird und das für Geschlechterfreiheit, Ökologie und Arbeit steht. Bei den Präsidentschaftswahlen hat die HDP mit ihrem Slogan „Wir werden dich [Erdogan] nicht zum Präsidenten machen" eine Polarisierung geschaffen, durch die die AKP keine Regierung bilden konnte. Genau, heute verläuft die politische Konfrontation zwischen Palast und Volk. Aber die Vertiefung dieser Polarisierung im Sinne der Befreiung der Unterdrückten kann nicht dadurch erreicht werden, dass die Unterdrückten für den Reorganisationstrend in den Verfassungsdiskussionen der CHP und ihrer Verbündeten gewonnen werden. Die Krise der herrschenden Ordnung und die Verfassungsdiskussionen, als eine Erscheinung dessen, müssen mit einer politischen Massenbewegung, welche die konkreten Forderungen der Unterdrückten beinhaltet, konfrontiert werden. Das beinhaltet die gerechte und demokratische Lösung der kurdischen Frage; die rechtliche Gleichstellung aller unterdrückten Nationen und Glaubensgemeinschaften; die Aufhebung aller Einschränkungen der Meinungs-, Aktions- und Organisationsfreiheit; die Freilassung aller politischen Gefangenen; muttersprachliche, kostenfreie, wissenschaftliche Bildung; autonome Universitäten; den Schutz der Natur; ein neues ökonomisches Modell; ein politisches System im Sinne der Frauen; die Freiheit der LGBTI+; eine politische Ordnung, in der die Werktätigen direkt eingebunden sind - also insgesamt politische Freiheiten. Die Organisierung der Unterdrückten als eine dritte Front wird den Weg für ein freies Leben ebnen.
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